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Entscheidung Nr. 2019-823 QPC vom 31. Januar 2020 - Pressemitteilung

Der Verfassungsrat leitet aus der Verfassung ein Ziel von Verfassungsrang ab, die Umwelt als gemeinsames Erbe der Menschheit zu schützen

  • Gegenstand der vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit

Der Verfassungsrat ist am 7. November 2019 vom Staatsrat bezüglich einer vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit über die Vereinbarkeit des Absatzes IV von Artikel L. 253-8 des Gesetzbuches über das Land- und Forstwirtschaftswesen und über die Seefischerei in der Fassung des Gesetzes Nr. 2018-938 vom 30. Oktober 2018 für ein Gleichgewicht der Handelsbeziehungen im Landwirtschafts- und Lebensmittelbereich sowie für eine gesunde, nachhaltige und allen zugängliche Ernährung mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten angerufen worden.

Diese Vorschrift verbietet in Frankreich die Herstellung, die Lagerung und den Verkehr von Pflanzenschutzmitteln, die von der Europäischen Union aus Gründen des Schutzes der Gesundheit von Menschen oder Tieren oder des Umweltschutzes nicht genehmigte Wirkstoffe enthalten. Sie verhindert damit nicht nur den Verkauf solcher Produkte in Frankreich, sondern auch deren Ausfuhr. Zu den betroffenen Erzeugnissen zählen insbesondere Unkrautvernichtungsmittel, Fungizide, Insektenvernichtungsmittel und Akarizide.

  • Die gegen diese gesetzliche Bestimmung vorgetragene Rüge

Der in seiner Auffassung von dem Wirtschaftsverband der Saatgutproduzenten Union française des semenciers unterstützte Wirtschaftsverband Union des industries de la protection des plantes trug vor, diese Vorschrift verstoße aufgrund der Schwere ihrer Auswirkungen für die herstellenden und ausführenden Unternehmen gegen die Unternehmerfreiheit. Er behauptete, ein derartiges Verbot wiese keinen unmittelbaren Bezug mit dem Ziel des Umwelt- und des Gesundheitsschutzes auf, insofern Einfuhrländer, die solche Erzeugnisse erlauben, dadurch nicht darauf verzichten würden, solche Produkte weiterhin zu verwenden, da sie sie ja von den Mitbewerbern der in Frankreich niedergelassenen Unternehmen beziehen könnten.

  • Der verfassungsrechtliche Rahmen

In seiner heutigen Entscheidung erinnert der Verfassungsrat zunächst daran, dass sich die Unternehmerfreiheit aus Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ergibt.

Erstmalig entscheidet der Verfassungsrat anschließend, dass sich aus der Präambel der Umwelt-Charta ein Ziel von Verfassungsrang ergibt, nämlich der Schutz der Umwelt, die ein gemeinsames Erbe aller Menschen darstellt. Die Entscheidung beruht ausdrücklich auf dem Wortlaut der Präambel der Charta, gemäß welchem „die Zukunft und die bloße Existenz der Menschheit untrennbar mit deren Umwelt verbunden sind, […] die Umwelt das gemeinsame Erbe aller Menschen ist, […] der Schutz der Umwelt genauso wie die anderen wesentlichen Interessen der Nation verfolgt werden soll [und,] zwecks einer dauerhaften Entwicklung, die Entscheidungen, welche zur Lösung der gegenwärtigen Probleme getroffen werden, nicht die Möglichkeit kommender Generationen, sowie anderer Völker beeinträchtigen dürfen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“.

Die heutige Entscheidung bekräftigt darüber hinaus das verfassungsrechtliche Ziel des Gesundheitsschutzes, das aus dem elften Absatz der Präambel der Verfassung von 1946 folgt.

Aus all diesen Bestimmungen der Verfassung leitet der Verfassungsrat zum ersten Mal in seiner Rechtsprechung ab, dass es dem Gesetzgeber obliegt, die verfassungsrechtlichen Ziele des Umweltschutzes und des Gesundheitsschutzes und die Unternehmerfreiheit miteinander in Einklang zu bringen. Diesbezüglich ist es gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber die Auswirkungen berücksichtigt, die sich von in Frankreich ausgeübten Tätigkeiten auf die Umwelt im Ausland ergeben können.

  • Die Prüfung der gesetzlichen Bestimmung, die Gegenstand der vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit war

Vor dem Hintergrund des eben dargestellten verfassungsrechtlichen Rahmens stellt der Verfassungsrat fest, dass der Gesetzgeber mit der angegriffenen Vorschrift Schäden für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt vorbeugen wollte, die von der Verbreitung der betreffenden Wirkstoffe ausgehen können, deren Schädlichkeit im Rahmen des für die Genehmigung von Wirkstoffen vorgesehenen europäischen Verfahrens festgestellt wurde. Diesbezüglich erinnert der Verfassungsrat daran, dass es ihm, der über keinen allgemeinen Wertungs- und Gestaltungsspielraum wie denjenigen des Parlaments verfügt, im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse nicht zusteht, die diesbezüglich vom Gesetzgeber erlassenen Vorschriften in Frage zu stellen.

Der Verfassungsrat hat entschieden, dass der Gesetzgeber durch die angegriffene Vorschrift verhindern wollte, dass in Frankreich niedergelassene Unternehmen am weltweiten Handel mit solchen Pflanzenschutzmitteln teilnehmen und damit indirekt mitursächlich für daraus entstehende Schäden für die menschliche Gesundheit oder für die Umwelt werden. Durch diese Maßnahme, die auch dann greift, wenn die Herstellung und die Vermarktung solcher Produkte außerhalb der EU weiterhin genehmigt werden sollten, hat der Gesetzgeber einen Eingriff in die Unternehmerfreiheit vorgenommen, der einen unmittelbaren Bezug zu den verfolgten verfassungsrechtlichen Zielen des Gesundheits- und des Umweltschutzes aufweist.

Der Verfassungsrat hebt im Übrigen hervor, dass der Gesetzgeber mit dem Aufschub des Inkrafttretens des Verbots der Herstellung, der Lagerung und des Verkehrs von Pflanzenschutzmitteln, die nicht genehmigte Wirkstoffe enthalten, auf den 1. Januar 2022 den von diesem Verbot betroffenen Unternehmen eine Frist von etwas mehr als drei Jahren eingeräumt hat, um ihre geschäftlichen Tätigkeiten an die neue Rechtslage anzupassen.

Aus allen diesen Ausführungen schließt der Verfassungsrat, dass der Gesetzgeber mit der Verabschiedung der angegriffenen Vorschrift eine Abwägung zwischen der Unternehmerfreiheit und den verfassungsrechtlichen Zielen des Umwelt- und des Gesundheitsschutzes vorgenommen hat, die nicht offensichtlich unverhältnismäßig ist.

Die angegriffene Vorschrift wurde daher für verfassungsgemäß erklärt.