Entscheidung Nr. 2014-403 QPC vom 13. Juni 2014
Der Verfassungsrat ist am 11. April 2014 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 2135 vom 9. April 2014) bezüglich einer von Herrn Laurent L. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit des fünften Absatzes von Artikel 380-11 der Strafprozessordnung mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.
DER VERFASSUNGSRAT,
Unter Bezugnahme auf die Verfassung;
Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;
Unter Bezugnahme auf die Strafprozessordnung;
Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;
Unter Bezugnahme auf die für den Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Piwnica und Molinié, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 2. und am 19. Mai 2014;
Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 5. Mai 2014;
Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;
Nachdem Herr RA Emmanuel Piwnica, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassener Rechtsanwalt, für den Antragsteller und Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2014 gehört worden sind;
Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;
-
In Erwägung dessen, dass der fünfte Absatz von Artikel 380-11 der Strafprozessordnung bestimmt: „Wird durch den vorsitzenden Richter des Schwurgerichtes festgestellt, dass der Angeklagte die Flucht ergriffen hat und vor Beginn oder während des Verlaufes der gerichtlichen Verhandlung nicht aufgefunden werden konnte, so ist eine von dem Angeklagten eingelegte Berufung unwirksam“;
-
In Erwägung dessen, dass der Antragsteller behauptet, diese Vorschrift verstoße gegen den Gleichheitssatz und verletze das Recht auf effektiven Rechtsschutz, da sie einem Angeklagten, der bei der Verhandlung des als Rechtsmittelinstanz entscheidenden Schwurgerichts nicht zugegen war, das Recht vorenthalten, Berufung einzulegen; dass darüber hinaus die Vorgaben aus Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verletzt seien, da der vorsitzende Richter des Schwurgerichts bei seiner Entscheidung über keinen Ermessenspielraum verfüge;
-
In Erwägung dessen, dass Artikel 16 der Erklärung von 1789 verkündet: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“; dass diese Vorschrift den Grundsatz der Einhaltung der Rechte der Verteidigung schützt; dass aus dieser Vorschrift ebenfalls folgt, dass in das Recht der Verfahrensbeteiligten auf effektiven Rechtsschutz durch ein Gericht nicht wesentlich eingegriffen werden darf;
-
In Erwägung dessen, dass gemäß den Artikeln 317 bis 320-1 der Strafprozessordnung der Angeklagte verpflichtet ist, persönlich vor dem Schwurgericht zu erscheinen; dass der Gesetzgeber in den Artikeln 379-2 bis 379-6 der Strafprozessordnung ein Verfahren für das Ergehen eines Urteils in Abwesenheit vorgesehen hat, wenn ein Angeklagter ohne stichhaltigen Grund der Verhandlung fernbleibt; dass der Artikel 380-1 dieses Verfahren ausschließt, wenn ein Schwurgericht als Rechtsmittelinstanz entscheidet;
-
In Erwägung dessen, dass der Artikel 380-2 der Strafprozessordnung das Recht des Angeklagten vorsieht, gegen ein auf Strafe erkennendes erstinstanzliches Urteil eines Schwurgerichts Berufung einzulegen; dass die ersten vier Absätze von Artikel 380-11 der Strafprozessordnung das Recht des Angeklagten regeln, bis zu dessen Vernehmung durch den vorsitzenden Richter des Schwurgerichts die Berufung zurückzunehmen; dass der fünfte Absatz bestimmt, dass eine vom Angeklagten eingelegte Berufung unwirksam wird, wenn der vorsitzende Richter des Schwurgerichts feststellt, dass der Angeklagte vor Beginn oder während des Verlaufs der gerichtlichen Verhandlung die Flucht ergriffen hat und nicht aufgefunden werden konnte; dass diese letztgenannte Vorschrift ein Ziel von Allgemeininteresse verfolgt, nämlich sicherzustellen, dass der Angeklagte im Rahmen des Berufungsverfahrens persönlich erscheint, damit das Verfahren auf sachdienliche Weise zu Ende geführt und endgültig über die Anklage entschieden werden kann;
-
In Erwägung dessen, dass die angegriffene Bestimmung gegenüber Angeklagten Anwendung findet, die ordnungsgemäß Berufung gegen ihre Verurteilung eingelegt haben; dass sie einem solchen Angeklagten lediglich aufgrund der Tatsache, dass dieser sich zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens seiner Pflicht entzogen hat, persönlich vor Gericht zu erscheinen, das Recht vorenthält, die Strafsache von dem angerufenen Gericht erneut prüfen zu lassen, und darüber hinaus die sofortige Vollstreckbarkeit des angegriffenen Strafurteils vorsieht; dass diese Vorschrift einen im Hinblick auf das verfolgte Ziel von Allgemeininteresse unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf effektiven Rechtsschutz vornimmt; dass sie infolgedessen die Vorgaben aus Artikel 16 der Erklärung von 1789 verkennt; dass die angegriffene Vorschrift, ohne dass Anlass bestünde, die weiteren Rügen zu prüfen, für verfassungswidrig erklärt werden muss;
-
In Erwägung dessen, dass Artikel 62 Absatz 2 der Verfassung bestimmt: „Eine gemäß Artikel 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsrates oder zu einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Verfassungsrat bestimmt die Bedingungen und Grenzen einer möglichen Anfechtung der Folgen der betreffenden Bestimmung“; dass wenngleich grundsätzlich die Partei, welche die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit erhoben hat, einen Vorteil aus der Verfassungswidrigkeitserklärung erlangen soll und die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsrates anhängigen Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden darf, so behält die Vorschrift des Artikels 62 der Verfassung dem Verfassungsrat vor, den Zeitpunkt festzulegen, an dem die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm eintritt, und zu bestimmen, ob und auf welche Art und Weise Rechtsfolgen angefochten werden können, die vor der Verfassungswidrigkeitserklärung auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschrift eingetreten sind;
-
In Erwägung dessen, dass die Aufhebung des fünften Absatzes von Artikel 380-11 der Strafprozessordnung mit der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung wirksam wird; dass diese Aufhebung gegenüber allen zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Verfahren wirksam ist; dass es zur Ermöglichung von Urteilen über von sich auf der Flucht befindenden Angeklagten eingelegte Berufungen geboten ist, dass ungeachtet der Vorschrift des Artikels 380-1 der Strafprozessordnung die Gerichte gemäß dem Verfahren für das Ergehen eines Urteils in Abwesenheit über solche Berufungen entscheiden können sollen,
ENTSCHEIDET:
Artikel 1 - Der fünfte Absatz von Artikel 380-11 der Strafprozessordnung ist verfassungswidrig.
Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung gemäß den in der Erwägung Nr. 8 festgelegten Voraussetzungen wirksam.
Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.
Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 12. Juni 2014, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Nicole BELLOUBET, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Hubert HAENEL und Nicole MAESTRACCI.
Veröffentlicht am 13. Juni 2014.
Les abstracts
- 4. DROITS ET LIBERTÉS
- 4.23. PRINCIPES DE DROIT PÉNAL ET DE PROCÉDURE PÉNALE
- 4.23.9. Respect des droits de la défense, droit à un procès équitable et droit à un recours juridictionnel effectif en matière pénale
4.23.9.10. Voies de recours
L'article 380-2 du code de procédure pénale reconnaît à l'accusé la faculté de faire appel de l'arrêt de condamnation rendu par la cour d'assises en premier ressort. Le cinquième alinéa de l'article L.380-11 dispose que l'appel formé par l'accusé est caduc lorsque le président de la cour d'assises constate qu'il a pris la fuite et qu'il n'a pu être retrouvé, avant l'ouverture du procès ou au cours de son déroulement. Ces dernières dispositions poursuivent l'objectif d'intérêt général d'assurer la comparution personnelle de l'accusé en cause d'appel afin que le procès puisse être utilement conduit à son terme et qu'il soit définitivement statué sur l'accusation. Ces dispositions s'appliquent à l'accusé qui a régulièrement relevé appel de sa condamnation. Elles le privent du droit de faire réexaminer l'affaire par la juridiction saisie du seul fait que, à un moment quelconque du procès, il s'est soustrait à l'obligation de comparaître tout en rendant immédiatement exécutoire la condamnation contestée. Ces dispositions portent au droit à un recours juridictionnel effectif une atteinte disproportionnée au regard de l'objectif d'intérêt général poursuivi. Par suite, elles méconnaissent les exigences résultant de l'article 16 de la Déclaration de 1789.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.8. SENS ET PORTÉE DE LA DÉCISION
- 11.8.6. Portée des décisions dans le temps
- 11.8.6.2. Dans le cadre d'un contrôle a posteriori (article 61-1)
- 11.8.6.2.2. Abrogation
11.8.6.2.2.1. Abrogation à la date de la publication de la décision
L'abrogation du cinquième alinéa de l'article 380-11 du code de procédure pénale prend effet à compter de la publication de la décision du Conseil constitutionnel.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.8. SENS ET PORTÉE DE LA DÉCISION
- 11.8.6. Portée des décisions dans le temps
- 11.8.6.2. Dans le cadre d'un contrôle a posteriori (article 61-1)
- 11.8.6.2.4. Effets produits par la disposition abrogée
- 11.8.6.2.4.2. Remise en cause des effets
11.8.6.2.4.2.1. Pour les instances en cours ou en cours et à venir
L'abrogation du cinquième alinéa de l'article 380-11 du code de procédure pénale est applicable à toutes les affaires non jugées définitivement à la date de la publication de la décision du Conseil constitutionnel. Afin de permettre le jugement en appel des accusés en fuite, il y a lieu de prévoir que, nonobstant les dispositions de l'article 380-1 du code de procédure pénale, ils pourront être jugés selon la procédure du défaut en matière criminelle.