Entscheidung

Entscheidung Nr. 2011-213 QPC vom 27. Januar 2012

Compagnie française d'assurance pour le commerce extérieur (COFACE) [Verfahrensaussetzung zugunsten bestimmter Heimkehrer aus ehemaligen Überseegebieten]

Der Verfassungsrat ist am 9. November 2011 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Zweiter Zivilsenat, Beschluss Nr. 1945 vom 9. November 2011) bezüglich einer von der Compagnie française d'assurance pour le commerce extérieur (COFACE) erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit des Artikels 100 des Gesetzes Nr. 97-1269 vom 30. Dezember 1997, Haushaltsgesetz für 1998, und des Artikels 25 des Gesetzes Nr. 98-1267 vom 30. Dezember 1998, Nachtragshaushalt für 1998, mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

DER VERFASSUNGSRAT,

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 61-1439 vom 26. Dezember 1961 über Umsiedlung und die Aufnahme der Franzosen aus Übersee;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 97-1269 vom 30. Dezember 1997, Haushaltsgesetz für 1998;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 98-546 vom 2. Juli 1998, Gesetz über verschiedene wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 98-1267 vom 30. Dezember 1998, Nachtragshaushalt für 1998;

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

Unter Bezugnahme auf die von dem als Nebenintervenienten auftretenden Vertriebenenverband „Union syndicale de défense des Intérêts des Français repliés d'Algérie, d'Outre-mer, populations déplacées contre leur gré, USDIFRA“ eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 30. November 2011;

Unter Bezugnahme auf die für das antragstellende Unternehmen von der Rechtsanwaltskanzlei Gadiou-Chevalier, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 1. Dezember und am 19. Dezember 2011;

Unter Bezugnahme auf die für die offene Handelsgesellschaft CAZORLA & Partner von Herrn RA Ludovic Serée de Roche, Rechtsanwalt der Anwaltskammer von Toulouse, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 1. Dezember und am 5. Dezember 2011;

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 2. Dezember 2011;

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

Nachdem Herr RA Jean-Pierre Chevalier für das antragstellende Unternehmen, Herr RA Ludovic Serée de Roche für die Handelsgesellschaft CAZORLA, Herr RA Grégoire Ladouari, Rechtsanwalt der Anwaltskammer von Marseille, für den als Nebenintervenienten auftretenden Verband, sowie Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 2012 gehört worden sind;

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

  1. In Erwägung dessen, dass Artikel 100 des Gesetzes Nr. 97-1269 vom 30. Dezember 1997, Haushaltsgesetz für 1998, in der Fassung durch Artikel 25 des Gesetzes Nr. 98-1267 vom 30. Dezember 1998, Nachtragshaushalt für 1998 bestimmt: „Wer vor dem 18. November 1997 einen Antrag bei einem der Departement-Ausschüsse für die Unterstützung von Heimkehrern aus den ehemaligen Überseegebieten, die nach ihrer Umsiedlung eine selbständige Tätigkeit aufgenommen haben, eingereicht hat, genießt eine vorübergehende Aussetzung einer gegen ihn erhobenen Klage bis zur Entscheidung der zuständigen Behörde oder, gegebenenfalls, bis zur Entscheidung der für einen Widerspruch gegen diese Entscheidung zuständigen Behörde, oder, im Falle eines Verwaltungsstreitverfahrens, bis zum Ergehen eines rechtskräftigen Urteils des zuständigen Gerichtes.
    „Personen, auf die die Vorschrift des Absatzes 1 nicht anwendbar ist und die zwischen dem 18. November 1997 und dem von der neuen verordnungsrechtlichen Regelung über die Hilfe zur Entschuldung festgelegten Stichtag einen solchen Antrag eingereicht haben, genießen gemäß denselben wie den in Absatz 1 festgelegten Bedingungen eine vorübergehende Aussetzung einer gegen sie erhobenen Klage.
    „Diese Vorschriften sind auch anwendbar bei Insolvenzverfahren und sichernden Maßnahmen, mit Ausnahme von Steuerschulden. Sie binden alle Gerichte, auch im Rahmen eines Revisionsverfahrens.
    „Wer vor dem 18. November 1997 Beschwerde gegen eine abschlägige Entscheidung gemäß Artikel 44 des Nachtragshaushaltsgesetzes für 1986 (Gesetz Nr. 86-1318 vom 30. Dezember 1986) oder Artikel 12 des Gesetzes Nr. 87-549 vom 16. Juli 1987 eingelegt hat, genießt ebenfalls bis zum Ergehen des rechtskräftigen Urteils des zuständigen Gerichtes eine vorübergehende Aussetzung der gegen ihn gerichteten Klage.
    „In den Genuss einer vorübergehenden Aussetzung einer gegen sie erhobenen Klage kommen gemäß denselben Voraussetzungen ebenfalls die Bürgen - auch die Mitbürgen - einer Person, die gemäß den Bestimmungen der vorhergehenden Absätze der vorliegenden Vorschrift eine vorübergehende Aussetzung einer gegen sie erhobenen Klage genießt“;

  2. In Erwägung dessen, dass das antragstellende Unternehmen behauptet, diese Bestimmungen stellten, indem sie zugunsten von Heimkehrern aus ehemaligen Überseegebieten eine automatische und unbefristete Aussetzung von gegen diese Personen erhobenen Klagen vorsehen, einen Eingriff in die Rechte der Gläubiger, ihre Forderungen einzutreiben, dar, der die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie und die Vertragsfreiheit verletzt; dass die angegriffenen Bestimmungen auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor den öffentlichen Lasten verstießen, da sie ausschließlich den Gläubigern eine mit der nationalen Solidarität begründeten Last auferlegen; dass das Recht, die Gerichte anzurufen, sowie das Recht auf ein faires Verfahren ebenfalls verletzt seien;

  3. In Erwägung dessen, dass der Artikel 6 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 bestimmt, dass das Gesetz „für alle gleich sein [soll], mag es beschützen, mag es bestrafen“; dass der Artikel 16 der Erklärung verkündet: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“; dass es dem Gesetzgeber zwar freisteht, im Hinblick auf die Sachverhalte, Umstände oder Personen, auf die sie anwendbar sein sollen, unterschiedliche Verfahrensregeln einzurichten, er dabei jedoch darauf zu achten hat, dass diese unterschiedlichen Regelungen keine ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen vornehmen und dass die Rechtssuchenden über die gleichen Verfahrensrechte verfügen, insbesondere hinsichtlich der Einhaltung der Rechte der Verteidigung, welche im Besonderen ein faires Verfahren voraussetzen, das die Gleichheit der Rechte der Streitparteien gewährleistet;

  4. In Erwägung dessen, dass durch die angegriffenen Vorschriften die gemäß Artikel 1 des oben genannten Gesetzes vom 26. Dezember 1961 als Heimkehrer aus den ehemaligen Überseegebieten bezeichneten Franzosen begünstigt werden, welche eine selbständige Tätigkeit ausüben oder ihre Berufstätigkeit aufgegeben oder ihr Unternehmen veräußert haben; dass auch bestimmte Familienmitglieder solcher Personen und ihre Unternehmen in den Genuss dieser Vorschriften kommen; dass diese Bestimmungen zur Anwendung kommen, sobald ein Antrag auf Durchführung eines Verfahrens zur Entschuldung von Heimkehrern gestellt wurde;

  5. In Erwägung dessen, dass aus diesen Vorschriften hervorgeht, dass ein Gericht die Aussetzung von gegen solche Personen eingereichten Klagen festzustellen hat, sobald ein derartiger Antrag gestellt wird, und zwar unabhängig vom Stand des Gerichtsverfahrens; dass besagte Aussetzung des Verfahrens im Rahmen von Klagen greift, die der Feststellung von schuldrechtlichen Ansprüchen gleichwelcher Art und aus gleichwelchem Grund dienen; dass diese Vorschriften auch bei Insolvenzverfahren anwendbar sind und die Durchführung von Sicherungs- oder Vollstreckungsmaßnahmen untersagen, außer in Fällen, die Steuerschulden betreffen; dass der Gläubiger über keine Rechtsmittel dagegen verfügt; dass das Verfahren solange ausgesetzt bleibt, bis die Entscheidung der zuständigen Behörde über den Antrag, die Entscheidung über den Widerspruch gegen eine solche Entscheidung beziehungsweise, im Falle eines Verwaltungsstreitverfahrens, ein rechtskräftiges Urteil des zuständigen Gerichts ergeht;

  6. In Erwägung dessen, dass der Gesetzgeber nach der Erlangung der Unabhängigkeit ehemals unter der Hoheit oder der Schutzherrschaft Frankreichs stehender Gebiete aus Gründen der nationalen Solidarität Maßnahmen zur Unterstützung der französischen Staatsbürger erlassen hat, die diese Gebiete verlassen mussten oder meinten, sie verlassen zu müssen; dass er insbesondere Maßnahmen erlassen hat, welche die vorübergehende Aussetzung von gegen diese Heimkehrer angestrengten Klagen erlauben;

  7. In Erwägung dessen, dass der Artikel 100 des Haushaltsgesetzes für 1998 diese Regelungen über die Aussetzung der Klagen umfassend neu gefasst und wie von den oben genannten Vorschriften vorgesehen ausgestaltet hat; dass in Anbetracht der Tatsache, dass der Sachverhalt, der ursprünglich zu diesen Regelungen geführt hatte, bereits lange zurückliegt, sowie in Anbetracht des Anwendungsbereichs, der Dauer und der Rechtsfolgen der Aussetzung, welche nicht ausschließlich nur bei Schulden zum Tragen kommt, die im Zusammenhang mit der Aufnahme und der Umsiedlung der Heimkehrer eingegangen wurden, die angegriffenen Vorschriften gegen die vorgenannten verfassungsrechtlichen Normen verstoßen;

  8. In Erwägung dessen, dass aus diesen Ausführungen folgt, dass, ohne dass Anlass bestünde, die weiteren Rügen zu prüfen, der Artikel 100 des oben genannten Gesetzes vom 30. Dezember 1997 in der Fassung des oben genannten Gesetzes vom 30. Dezember 1998 für verfassungswidrig erklärt werden muss;

  9. In Erwägung dessen, dass Artikel 62 Absatz 2 der Verfassung bestimmt: „Eine gemäß Artikel 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsrates oder zu einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Verfassungsrat bestimmt die Bedingungen und Grenzen einer möglichen Anfechtung der Folgen der betreffenden Bestimmung“; dass wenngleich grundsätzlich die Partei, welche die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit erhoben hat, einen Vorteil aus der Verfassungswidrigkeitserklärung erlangen soll und die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsrates anhängigen Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden darf, so behält die Vorschrift des Artikels 62 der Verfassung dem Verfassungsrat vor, den Zeitpunkt festzulegen, an dem die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm eintritt, und zu bestimmen, ob und auf welche Art und Weise Rechtsfolgen angefochten werden können, die vor der Verfassungswidrigkeitserklärung auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschrift eingetreten sind;

  10. In Erwägung dessen, dass die Aufhebung des Artikels 100 des oben genannten Gesetzes vom 30. Dezember 1997 mit der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung wirksam wird; dass diese Aufhebung gegenüber allen zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Verfahren wirksam ist,

ENTSCHEIDET:

Artikel 1 - Der Artikel 100 des Gesetzes Nr. 97-1269 vom 30. Dezember 1997, Haushaltsgesetz für 1998, in der Fassung durch Artikel 25 des Gesetzes Nr. 98-1267 vom 30. Dezember 1998, Nachtragshaushalt für 1998, ist verfassungswidrig.

Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung gemäß den in der Erwägung Nr. 10 festgelegten Voraussetzungen wirksam.

Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 26. Januar 2012, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.

Veröffentlicht am 27. Januar 2012.

Les abstracts

  • 5. ÉGALITÉ
  • 5.2. ÉGALITÉ DEVANT LA JUSTICE
  • 5.2.2. Égalité et droits - Garanties des justiciables
  • 5.2.2.2. Égalité et règles de procédure
  • 5.2.2.2.3. Equilibre des droits des parties dans la procédure

Les dispositions de l'article 100 de la loi n° 97-1267 du 30 décembre 1997 de finances pour 1998 bénéficient aux Français rapatriés, tels qu'ils sont définis à l'article 1er de la loi n° 61-1439 du 26 décembre 1961, exerçant une profession non salariée ou ayant cessé leur activité professionnelle ou cédé leur entreprise, ainsi qu'à certains membres de leur famille et aux sociétés qu'ils détiennent. Elles sont applicables dès lors que ces personnes ont déposé un dossier aux fins de bénéficier de la procédure de désendettement des rapatriés.

Il résulte de ces dispositions que, dès le dépôt d'un tel dossier, le juge doit, quel que soit l'état de la procédure, constater la suspension des poursuites dirigées à l'encontre de ces personnes. Cette suspension s'applique aux actions en justice tendant à voir constater toute créance, quelle qu'en soit la cause. Elle s'applique également aux procédures collectives et interdit la mise en œuvre des mesures conservatoires ou d'exécution, à l'exclusion des dettes fiscales. Le créancier ne dispose d'aucune voie de recours pour s'y opposer. La suspension des poursuites se prolonge jusqu'à la décision de l'autorité administrative compétente, les recours gracieux contre celle-ci, ou, en cas de recours contentieux, la décision définitive de l'instance juridictionnelle compétente.

Après l'accession à l'indépendance de territoires antérieurement placés sous la souveraineté, le protectorat ou la tutelle de la France, le législateur a adopté, au titre de la solidarité nationale, des mesures pour venir en aide aux Français ayant dû ou estimé devoir quitter ces territoires et, en particulier, des dispositions permettant la suspension provisoire des poursuites contre les rapatriés.

Toutefois, l'article 100 de la loi de finances pour 1998 a procédé à la refonte de ce régime de suspension des poursuites et lui a conféré la portée résultant des dispositions précitées. Compte tenu de l'ancienneté des faits à l'origine de ce dispositif ainsi que de l'effet, de la portée et de la durée de la suspension qui ne s'applique pas seulement aux dettes liées à l'accueil et à la réinstallation des intéressés, les dispositions contestées méconnaissent le principe d'égalité devant la justice. Censure

(2011-213 QPC, 27 Januar 2012, cons. 4, 5, 6, 7, 8, Journal officiel du 28 janvier 2012, page 1675, texte n° 80)
  • 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
  • 11.8. SENS ET PORTÉE DE LA DÉCISION
  • 11.8.6. Portée des décisions dans le temps
  • 11.8.6.2. Dans le cadre d'un contrôle a posteriori (article 61-1)
  • 11.8.6.2.2. Abrogation
  • 11.8.6.2.2.1. Abrogation à la date de la publication de la décision

L'abrogation de l'article 100 de la loi n° 97-1267 du 30 décembre 1997 de finances pour 1998 prend effet à compter de la publication de la présente décision. Elle est applicable à toutes les instances non jugées définitivement à cette date.

(2011-213 QPC, 27 Januar 2012, cons. 9, 10, Journal officiel du 28 janvier 2012, page 1675, texte n° 80)
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