Entscheidung

Entscheidung Nr. 2011-164 QPC vom 16. September 2011

M. Antoine J. [Haftung des „Erzeugers“ einer Internetseite]

Der Verfassungsrat ist am 27. Juni 2011 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 3877 vom 21. Juni 2011) bezüglich einer von Herrn Antoine J. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit von Artikel 93-3 des Gesetzes Nr. 82-652 vom 29. Juli 1982, Gesetz über die audiovisuelle Kommunikation, mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

DER VERFASSUNGSRAT,

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

Unter Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch;

Unter Bezugnahme auf das geänderte Gesetz vom 29. Juli 1881 über die Pressefreiheit;

Unter Bezugnahme auf das geänderte Gesetz Nr. 82-652 vom 29. Juli 1982, Gesetz über die audiovisuelle Kommunikation;

Unter Bezugnahme auf die Urteile des Kassationsgerichtshofes (Strafsenat) vom 16. Februar 2010, Nr. 09-81064 und Nr. 08-86301;

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

Unter Bezugnahme auf die für den Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Lyon-Caen und Thiriez, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 19. Juli 2011;

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 19. Juli 2011;

Unter Bezugnahme auf die für die Handelsgesellschaft Distribution Casino France von der Rechtsanwaltskanzlei Piwnica und Molinié, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 2. August 2011;

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

Nachdem Herr RA Thomas Lyon-Caen für den Antragsteller, Herr RA Emmanuel Piwnica für die Handelsgesellschaft Distribution Casino France, sowie Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 6. September 2011 gehört worden sind;

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

  1. In Erwägung dessen, dass der Artikel 93-3 des Gesetzes Nr. 82-652 vom 29. Juli 1982, Gesetz über die audiovisuelle Kommunikation, bestimmt: „ Wird eine der von Kapitel IV des Gesetzes vom 29. Juli 1881 über die Pressefreiheit geahndeten strafbaren Handlungen mittels eines Online-Kommunikationsmittels begangen, wird als Haupttäter der Herausgeber oder, im Falle des zweiten Absatzes von Artikel 93-2 des vorliegenden Gesetzes, der Mitherausgeber strafrechtlich verfolgt, wenn die zu ahndende Mitteilung vor ihrer Onlineveröffentlichung gespeichert worden ist.
    „Andernfalls wird der Verfasser oder, in Ermangelung eines benennbaren Verfassers, der Erzeuger als Haupttäter strafrechtlich verfolgt.
    „Im Falle der Beschuldigung des Herausgebers oder des Mitherausgebers, wird der Verfasser als Teilnehmer an der Straftat verfolgt.
    „ Ebenfalls als Teilnehmer an einer strafbaren Handlung kann jede Person verfolgt werden, auf welche Artikel 121-7 des Strafgesetzbuches Anwendung findet.
    „ Erfolgt die strafbare Handlung durch den Inhalt einer Mitteilung eines Internetnutzers über einen Online-Kommunikationsdienst, welcher besagte Mitteilung in einem als solchen feststellbaren Forum für persönliche Beiträge der Öffentlichkeit zugänglich macht, ist der Herausgeber beziehungsweise der Mitherausgeber nicht strafrechtlich als Haupttäter verantwortlich, wenn erwiesen ist, dass er vor ihrem Hochladen keine Kenntnis von der Mitteilung hatte oder wenn er, sobald er Kenntnis von der Mitteilung erlangt hat, umgehend gehandelt hat, um diese Mitteilung zu löschen “;

  2. In Erwägung dessen, dass der Antragsteller vorträgt, der zweite Absatz in Verbindung mit dem letzten Absatz des vorgenannten Artikels 93-3 führe zu einer Schuldvermutung des Erzeugers eines Online-Kommunikationsdienstes, indem dieser automatisch für den Inhalt von Mitteilungen haftet, die in einem Forum für persönliche Beiträge, dessen „Moderator“ er ist, veröffentlicht werden, und zwar auch dann, wenn er keine Kenntnis vom Inhalt der Nachricht hatte; dass die angegriffenen Vorschriften zum anderen auch gegen den Gleichheitssatz - hier im Bereich des Strafrechts - verstießen, da sie ohne Begründung eine Ungleichbehandlung des Herausgebers im Sinne des Pressegesetzes gegenüber dem Erzeuger einer Internetseite vorsähen;

  3. In Erwägung dessen, dass des Weiteren laut Artikel 9 der Erklärung von 1789 jeder Mensch so lange als unschuldig zu gelten hat, bis er für schuldig erklärt worden ist; dass daraus folgt, dass der Gesetzgeber im Bereich von Strafmaßnahmen keine Vermutung der Schuld vorsehen darf; dass solche Vermutungen, insbesondere bei Übertretungen, jedoch ausnahmsweise zulässig sein können, sofern sie keine unwiderlegbare Beweiskraft besitzen, die Rechte der Verteidigung gewährleistet sind und aufgrund der Sachlage vernünftigerweise auf die Glaubwürdigkeit der Zurechenbarkeit geschlossen werden kann; dass im Übrigen, Verbrechen und Vergehen betreffend, die Schuld sich nicht bereits aufgrund der bloßen materiellen Zurechenbarkeit einer strafrechtlich geahndeten Handlung ergeben darf;

  4. In Erwägung dessen, dass die angegriffenen Vorschriften diejenigen Personen bezeichnen, die strafrechtlich verantwortlich für die in Kapitel IV des oben genannten Gesetzes vom 29. Juli 1881 Handlungen sind, welche mittels eines Online-Kommunikationsdienstes begangen werden; dass der Herausgeber beziehungsweise der Mitherausgeber nur dann verfolgt werden kann, wenn die strafrechtlich relevante Mitteilung vor ihrer Onlineveröffentlichung gespeichert wurde; dass der letzte Absatz von Artikel 93-3 darüber hinaus unter gewissen Voraussetzungen vorsieht, dass, wenn sich die strafbare Handlung aus dem Inhalt einer Nachricht ergibt, die ein Internetnutzer mittels eines Online-Kommunikationsdienstes verbreitet, der Herausgeber oder der Mitherausgeber nur dann strafrechtlich verantwortlich ist, wenn dieser vor dem Hochladen der Mitteilung Kenntnis von ihr hatte oder wenn er, sobald er von der Mitteilung erfuhr, es unterlassen hat, umgehend zu handeln, um sie zu löschen; dass ansonsten, wenn weder der Herausgeber noch der Mitherausgeber strafrechtlich verfolgt werden, der Erzeuger als Haupttäter verfolgt wird;

  5. In Erwägung dessen, dass aus diesen Vorschriften in ihrer Auslegung durch den Kassationsgerichtshof gemäß den oben genannten Urteilen vom 16. Februar 2010 hervorgeht, dass eine Person, die eine Online-Kommunikationsplattform zwecks Meinungsaustausch über vorher bestimmte Themen einrichtet, in ihrer Eigenschaft als Erzeuger belangt werden kann; dass diese Person dagegen weder einwenden kann, dass die online gestellten Mitteilungen vor ihrem Hochladen nicht gespeichert worden sind, noch dass es nicht möglich sei, den Verfasser der Mitteilung zu identifizieren;

  6. In Erwägung dessen, dass aus den zur Prüfung vorgelegten Bestimmungen hervorgeht, dass derjenige, der eine solchen Seite zum Meinungsaustausch im Internet einrichtet oder moderiert, in seiner Eigenschaft als Erzeuger der Seite strafrechtlich wegen des Inhalts von Mitteilungen verfolgt werden kann, deren Verfasser er nicht ist und die vorher auch in keiner Weise gespeichert wurden; dass er die für diese strafbaren Handlungen vorgesehen Strafen nur dann vermeiden kann, wenn er den Verfasser der Mitteilung benennt oder belegt, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Herausgebers Anwendung findet; dass die auf dem Erzeuger lastende Verantwortung zur Folge hat, dass diesem seine Rechte einschränkende Strafen drohen und in die Ausübung seiner von Artikel 11 der Erklärung von 1789 geschützten Meinungs- und Kommunikationsfreiheit eingegriffen wird;

  7. In Erwägung dessen, dass daher in Anbetracht zum einen der gemäß dem ersten und dem letzten Absatz von Artikel 93-3 besonderen Ausgestaltung der Verantwortung eines Herausgebers und, zum anderen, der Beschaffenheit des Internets, welche es beim gegenwärtigen technischen Stand dem Verfasser einer im Internet verbreiteten Mitteilung erlaubt, anonym zu bleiben, die angegriffenen Bestimmungen nicht in einer Art und Weise ausgelegt werden dürfen, die es ermöglicht, den Gründer oder den Moderator einer öffentlichen Online-Kommunikationsplattform, in deren Rahmen von Internetnutzern verfasste Mitteilungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, in seiner Eigenschaft als Erzeuger dieser Website lediglich aufgrund des Inhaltes einer Mitteilung, von der er vor ihrer Veröffentlichung keine Kenntnis hatte, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen; dass andernfalls eine unwiderlegbare Vermutung strafrechtlicher Verantwortlichkeit vorläge und die weiter oben genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben verletzt wären; dass die angegriffenen Bestimmungen unter diesem Vorbehalt nicht gegen Artikel 9 der Erklärung von 1789 verstoßen;

  8. In Erwägung dessen, dass der Artikel 93-3 des oben genannten Gesetzes vom 29. Juli 1982 auch nicht gegen andere von der Verfassung verbürgte Rechte und Freiheiten verstößt,

ENTSCHEIDET:

Artikel 1.- Unter dem in der Erwägung 7 zum Ausdruck gebrachten Vorbehalt ist der Artikel 93-3 des geänderten Gesetzes Nr. 82-652 vom 29. Juli 1982, Gesetz über die audiovisuelle Kommunikation, verfassungsgemäß.

Artikel 2.- Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 15. September 2011, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.

Veröffentlicht am 16. September 2011.

Les abstracts

  • 4. DROITS ET LIBERTÉS
  • 4.23. PRINCIPES DE DROIT PÉNAL ET DE PROCÉDURE PÉNALE
  • 4.23.8. Présomption d'innocence
  • 4.23.8.2. Principe de l'interdiction des présomptions de culpabilité en matière répressive

Il résulte de l'article 9 de la Déclaration de 1789 qu'en principe le législateur ne saurait instituer de présomption de culpabilité en matière répressive. Toutefois, à titre exceptionnel, de telles présomptions peuvent être établies, notamment en matière contraventionnelle, dès lors qu'elles ne revêtent pas de caractère irréfragable, qu'est assuré le respect des droits de la défense et que les faits induisent raisonnablement la vraisemblance de l'imputabilité. En outre, s'agissant des crimes et délits, la culpabilité ne saurait résulter de la seule imputabilité matérielle d'actes pénalement sanctionnés.
Compte tenu, d'une part, du régime de responsabilité spécifique dont bénéficie le directeur de la publication en vertu des premier et dernier alinéas de l'article 93-3 de la loi du 29 juillet 1982 sur la communication audiovisuelle et, d'autre part, des caractéristiques d'internet qui, en l'état des règles et des techniques, permettent à l'auteur d'un message diffusé sur internet de préserver son anonymat, les dispositions de cet article 93 ne sauraient, sans instaurer une présomption irréfragable de responsabilité pénale en méconnaissance des exigences constitutionnelles précitées, être interprétées comme permettant que le créateur ou l'animateur d'un site de communication au public en ligne mettant à la disposition du public des messages adressés par des internautes, voie sa responsabilité pénale engagée en qualité de producteur à raison du seul contenu d'un message dont il n'avait pas connaissance avant la mise en ligne. Réserve d'interprétation.

(2011-164 QPC, 16 September 2011, cons. 3, 7, Journal officiel du 17 septembre 2011, page 15601, texte n° 75)
  • 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
  • 11.6. QUESTION PRIORITAIRE DE CONSTITUTIONNALITÉ
  • 11.6.3. Procédure applicable devant le Conseil constitutionnel
  • 11.6.3.5. Détermination de la disposition soumise au Conseil constitutionnel

Saisi d'une QPC portant sur l'article 93-3 de la loi du 29 juillet 1982 sur la communication audiovisuelle, le Conseil examine cet article tel qu'il a été interprété par la chambre criminelle de la Cour de cassation dans deux arrêts du 16 février 2010.

(2011-164 QPC, 16 September 2011, cons. 5, Journal officiel du 17 septembre 2011, page 15601, texte n° 75)
  • 16. RÉSERVES D'INTERPRÉTATION
  • 16.12. DROIT DE LA COMMUNICATION - LOI DE 1986 RELATIVE À LA LIBERTÉ DE COMMUNICATION ET SES MODIFICATIONS
  • 16.12.5. Responsabilité du " producteur " d'un site de communication au public (article 93-3 de la loi n° 82-652 du 29 juillet 1982 sur la communication audiovisuelle)

Compte tenu, d'une part, du régime de responsabilité spécifique dont bénéficie le directeur de la publication en vertu des premier et dernier alinéas de l'article 93-3 de la loi du 29 juillet 1982 sur la communication audiovisuelle et, d'autre part, des caractéristiques d'internet qui, en l'état des règles et des techniques, permettent à l'auteur d'un message diffusé sur internet de préserver son anonymat, les dispositions de cet article 93 ne sauraient, sans instaurer une présomption irréfragable de responsabilité pénale en méconnaissance des exigences de l'article 9 de la Déclaration de 1789, être interprétées comme permettant que le créateur ou l'animateur d'un site de communication au public en ligne mettant à la disposition du public des messages adressés par des internautes, voie sa responsabilité pénale engagée en qualité de producteur à raison du seul contenu d'un message dont il n'avait pas connaissance avant la mise en ligne.

(2011-164 QPC, 16 September 2011, cons. 7, Journal officiel du 17 septembre 2011, page 15601, texte n° 75)
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