Entscheidung Nr. 2011-163 QPC vom 16. September 2011
Der Verfassungsrat ist am 27. Juni 2011 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 4006 vom 22. Juni 2011) bezüglich einer von Herrn Claude N. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit von Artikel 222-31-1 des Strafgesetzbuches mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.
DER VERFASSUNGSRAT,
Unter Bezugnahme auf die Verfassung;
Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;
Unter Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch;
Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;
Unter Bezugnahme auf die für den Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Waquet, Farge und Hazan, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 13. Juli und 3. August 2011;
Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 19. Juli 2011;
Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;
Nachdem Frau RAin Claire Waquet für den Antragsteller und Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 6. September 2011 gehört worden sind;
Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;
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In Erwägung dessen, dass der Artikel 222-31-1 des Strafgesetzbuches bestimmt: „Eine Vergewaltigung oder eine andere Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung wird als inzestuös qualifiziert, wenn die Straftat innerhalb der Familie von einem Verwandten in aufsteigender Linie, einem Bruder, einer Schwester oder einer anderen Person - einschließlich dem Lebenspartner eines Familienmitgliedes -, die gegenüber dem Opfer rechtlich oder tatsächlich die Sorge ausübt, gegen einen Minderjährigen verübt wird“;
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In Erwägung dessen, dass der Antragsteller vorträgt, diese Vorschrift verstoße gegen das Legalitätsprinzip, weil sie das Familienverhältnis nicht genau bestimme, welches dazu führt, dass eine Vergewaltigung oder eine andere Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung als inzestuös gilt; dass die Vorschrift auch das Verbot der Rückwirkung des strengeren Strafgesetzes verletze;
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In Erwägung dessen, dass der Gesetzgeber aufgrund von Artikel 34 der Verfassung, sowie des Legalitätsprinzips nach Artikel 8 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, gehalten ist, selbst den Anwendungsbereich des Strafrechts festzulegen und die Tatbestandsmerkmale der Verbrechen und Vergehen hinreichend eindeutig und genau zu bestimmen;
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In Erwägung dessen, dass es dem Gesetzgeber zwar freistand, eine besondere strafrechtliche Einordnung inzestuöser sexueller Handlungen vorzusehen, er jedoch nicht darauf verzichten durfte, diejenigen Personen, die im Sinne dieser Vorschrift als Familienmitglieder gelten, genau zu benennen; dass er damit das Legalitätsprinzip verletzt hat; dass infolgedessen, ohne dass Anlass bestünde, die weitere Rüge zu prüfen, die angegriffene Vorschrift für verfassungswidrig erklärt werden muss;
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In Erwägung dessen, dass Artikel 62 Absatz 2 der Verfassung bestimmt: „Eine gemäß Artikel 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsrates oder zu einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Verfassungsrat bestimmt die Bedingungen und Grenzen einer möglichen Anfechtung der Folgen der betreffenden Bestimmung“; dass wenngleich grundsätzlich die Partei, welche die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit erhoben hat, einen Vorteil aus der Verfassungswidrigkeitserklärung erlangen soll und die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsrates anhängigen Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden darf, so behält die Vorschrift des Artikels 62 der Verfassung dem Verfassungsrat vor, den Zeitpunkt festzulegen, an dem die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm eintritt, und zu bestimmen, ob und auf welche Art und Weise Rechtsfolgen angefochten werden können, die vor der Verfassungswidrigkeitserklärung auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschrift eingetreten sind;
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In Erwägung dessen, dass die Aufhebung des Artikels 222-31-1 des Strafgesetzbuches mit der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung wirksam wird; dass von diesem Zeitpunkt an kein Strafurteil die von diesem Artikel vorgesehene Bezeichnung eines Verbrechens oder Vergehens als „inzestuös“ mehr berücksichtigen darf; dass bezüglich der zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig abgeurteilten Straftaten, besagte strafrechtliche Einordnung nicht mehr im Strafregister aufgeführt werden darf,
ENTSCHEIDET:
Artikel 1 - Der Artikel 222-31-1 des Strafgesetzbuches ist verfassungswidrig.
Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung gemäß den in der Erwägung Nr. 6 festgelegten Voraussetzungen wirksam.
Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.
Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 15. September 2011, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.
Veröffentlicht am 16. September 2011.
Les abstracts
- 4. DROITS ET LIBERTÉS
- 4.23. PRINCIPES DE DROIT PÉNAL ET DE PROCÉDURE PÉNALE
- 4.23.2. Principe de la légalité des délits et des peines
- 4.23.2.1. Compétence du législateur
- 4.23.2.1.2. Applications
4.23.2.1.2.2. Méconnaissance de la compétence du législateur
Le législateur tient de l'article 34 de la Constitution, ainsi que du principe de légalité des délits et des peines qui résulte de l'article 8 de la Déclaration des droits de l'homme et du citoyen de 1789, l'obligation de fixer lui-même le champ d'application de la loi pénale et de définir les crimes et délits en termes suffisamment clairs et précis.
S'il était loisible au législateur d'instituer une qualification pénale particulière pour désigner les agissements sexuels incestueux, il ne pouvait, sans méconnaître le principe de légalité des délits et des peines, s'abstenir de désigner précisément les personnes qui doivent être regardées, au sens de cette qualification, comme membres de la famille. Par suite, l'article 222-31-1 du code pénal qui définit les viols et agressions sexuelles incestueux comme ceux qui sont commis " au sein de la famille sur la personne d'un mineur par un ascendant, un frère, une sœur ou par toute autre personne, y compris s'il s'agit d'un concubin d'un membre de la famille, ayant sur la victime une autorité de droit ou de fait " doit être déclaré contraire à la Constitution.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.8. SENS ET PORTÉE DE LA DÉCISION
- 11.8.6. Portée des décisions dans le temps
- 11.8.6.2. Dans le cadre d'un contrôle a posteriori (article 61-1)
- 11.8.6.2.4. Effets produits par la disposition abrogée
- 11.8.6.2.4.2. Remise en cause des effets
11.8.6.2.4.2.1. Pour les instances en cours ou en cours et à venir
L'abrogation de l'article 222-31-1 du code pénal prend effet à compter de la publication de la décision du Conseil constitutionnel. A compter de cette date, aucune condamnation ne peut retenir la qualification de crime ou de délit " incestueux " prévue par cet article.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.8. SENS ET PORTÉE DE LA DÉCISION
- 11.8.6. Portée des décisions dans le temps
- 11.8.6.2. Dans le cadre d'un contrôle a posteriori (article 61-1)
- 11.8.6.2.4. Effets produits par la disposition abrogée
- 11.8.6.2.4.2. Remise en cause des effets
11.8.6.2.4.2.3. Pour les décisions définitivement jugées
L'abrogation de l'article 222-31-1 du code pénal prend effet à compter de la publication de la présente décision. A compter de cette date, aucune condamnation ne peut retenir la qualification de crime ou de délit " incestueux " prévue par cet article. Lorsque l'affaire a été définitivement jugée à cette date, la mention de cette qualification ne peut plus figurer au casier judiciaire.